Tom hatte die Hände wie zum Gebet gefaltet und presste sie an die Lippen, während er fieberhaft nach einer Idee suchte.
»Haben Sie denn kein Telefonbuch oder so was? Ein … ein Buch, wo alle Telefonnummern drin stehen? Wo man nach dieser Behörde suchen kann, verstehen Sie?«
Señor Valdez verstand sehr gut. Was dachte dieser arrogante Schnösel eigentlich? Dass sie hier auf Kuba waren? Selbstverständlich gab es ein Telefonbuch, sogar online. Am besten, er tat so, als ob er diese komische Behörde suchen und nicht finden würde. Seine Finger tanzten über die Tastatur.
Diesmal musste Señor Valdez nicht mal lügen. Er fand tatsächlich keine Behörde in Cancún, die sich zumindest offiziell dem Kampf gegen Schmuggel und Grabraub widmete.
Tom stand der kalte Schweiß auf der Stirn. Er schluckte die plötzliche Übelkeit hinunter, die sich in seiner Kehle breitmachte. Es half alles nichts, er musste mit der Polizei Kontakt aufnehmen. Die würde wissen, was zu tun war. Krankenhäuser anrufen, Unfallberichte durchsehen, diese verdammte Behörde suchen, diesen komischen ... Verdammt, wie hieß er nochmal?
»Oh nein, Señor, Polizei hilft nichts!« Señor Valdez brachte neue Schwierigkeiten vor. »Polizei ist nur für Mexikaner, wissen Sie? Sie brauchen Touristenpolizei!«
»Gut, dann rufen Sie bitte die Touristenpolizei an und sagen Sie ihnen, dass sie einen Streifenwagen vorbeischicken sollen.« Tom merkte, dass er langsam, aber sicher die Geduld mit dem ewig lächelnden Mann auf der anderen Seite des Tresens verlor. »Hier ist eine Frau verschwunden, und so wie’s aussieht, ist ihr was Schlimmes zugestoßen. Da muss sich sofort jemand drum kümmern, kapiert?«
Der Hotelmanager war dankbar für die vielen Stunden, in denen er sich antrainiert hatte, in solchen Situationen ruhig zu bleiben. Da machte sich eine Schlampe aus Deutschland einen schönen Abend mit einem anderen – was man bei so einem Ehegatten ja durchaus verstehen konnte – und ihr Mann hatte nichts Besseres zu tun, als in der Hotellobby herumzuschreien. Gott sei Dank waren gerade alle anderen Gäste beim Essen.
»Touristenpolizei hat feste Seiten und ...«, er schob demonstrativ den Hemdsärmel so weit hoch, dass Tom seine gefälschte Cartier-Uhr bewundern konnte, »... jetzt ist schon nach sechs Uhr. Sehen Sie? Niemand da. Haben Sie schon su Abend gegessen? Nein? Dann gehen Sie schnell duschen, und dann essen, und wenn Sie kommen surück, Frau ist bestimmt …«
»Die werden doch einen Notfalldienst haben, verdammt noch mal!« Tom ballte die Hände zu Fäusten. »Eine Hotline oder sowas!«
Señor Valdez‘ Mundwinkel quittierten ihren Dienst und ließen sich nach unten fallen. Genug war genug. Keine finanzielle Gefälligkeit, dafür nur Forderungen, Forderungen, Forderungen. Dann kam ihm eine Idee.
»Wie Sie meinen …«
Der Manager klapperte auf der Tastatur herum, fuhr mit dem Finger suchend über den Bildschirm, griff dann blind zum Telefonhörer (diese Geste hatte er sich aus amerikanischen Fernsehserien abgeschaut. Es sah so wunderbar professionell und geschäftsmäßig aus) und tippte eine Telefonnummer ein. Er lauschte mit hochgezogenen Augenbrauen, bis die leise Stimme einer Frau ertönte. Wortlos hielt er Tom den Hörer hin.
Tom versuchte verzweifelt, den Flötentönen, die eindeutig von einem Band trällerten, irgendetwas Brauchbares zu entnehmen. Scheiße, warum war er nicht zum VHS-Kurs mitgegangen? Wenigstens ein paar Sätze … Uno, ocho, waren das nicht Zahlen? Die Öffnungszeiten? Tom wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es hatte keinen Zweck. Er musste bis morgen warten.
Seine Hand zitterte, als er den Hörer zurückreichte.
»Ähm, ich hab das nicht so ganz verstanden«, sagte er, während ihm der Gedanke in den Kopf schoss, ob er sich nicht gleich eine Taschenlampe schnappen und den Strand absuchen sollte, »wann machen die morgen früh auf?«
»Um acht Uhr, Señor. Am besten Sie fahren hin, nach Cancún. Taxifahrer hier kennen den Weg.«
Tom wandte sich ab und verließ die Lobby mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf. Erst draußen fiel ihm ein, dass er nicht mal ›Auf Wiedersehen‹ gesagt hatte. Und ›Dankeschön‹ auch nicht. Naja, der Typ an der Rezeption hatte bestimmt Verständnis dafür. In seiner Lage …
Er irrte sich. Señor Valdez hatte kein Verständnis dafür. Aber dafür amüsierte er sich königlich über seinen Einfall, statt der Nummer der Polizeidienststelle in Cancún die automatische Bandansage der staatlichen Lotteriegesellschaft zu wählen. Wie sagt man so schön? Dos pájaros de un tiro – zwei Fliegen mit einer Klappe. Jetzt wusste er sogar die Lottozahlen.
Er lächelte immer noch, als er Punkt zweiundzwanzig Uhr Feierabend machte.
Um diese Zeit knurrte Toms Magen zwar so laut, dass er das Ticken aus der Nachttischschublade übertönte, aber um nichts in der Welt hätte sich Tom jetzt in eines der Restaurants setzen und munter mit den anderen Hotelgästen das Buffet plündern können. Eine Faust aus eiskaltem Stahl hielt seine Innereien umklammert und schnürte ihm die Luft ab. Wenn nicht bald etwas passierte, erstickte er.
Aber es passierte nichts. Kein Telefonklingeln, keine Tür, die stürmisch aufgerissen wurde, kein atemloses ›du glaubst gar nicht, was ich grad erlebt hab!‹, kein auf die Wange gehauchter Kuss zur Begrüßung. Wie im Fieberwahn spielte er immer wildere Varianten durch. Was konnte er jetzt noch tun? Wo sollte er noch suchen? Schließlich hatte er schon den ganzen Strand abgeklappert, bis er die bunten Lichter von Playa del Carmen erkennen konnte, die auf dem Wasser tanzten.
Das Meer – in der Dunkelheit hatte es sein freundliches Gesicht verloren. Pechschwarz erstreckte es sich zum Horizont, undurchdringlich, heimtückisch. Als ob knapp unter der spiegelglatten Oberfläche Monster darauf lauerten, ihre unvorsichtigen Opfer in die Tiefe zu zerren, in den nassen, kalten Tod. Tom hatte instinktiv Abstand zu den Wellen gehalten, die in der abendlichen Windstille nur träge ans Ufer schwappten. Im Schein der Taschenlampe waren feuchtglänzende Algenbüschel aufgetaucht, die in der Gischt hin- und hertrieben wie die Haare einer Frau, ein sonnengebleichter Fußball, der im ersten Moment wie ein menschlicher Kopf aussah, und ein zerkratztes Surfboard, das schon vor langer Zeit die Flucht übers weite Meer angetreten hatte. Jetzt lag es erschöpft und ausgelaugt auf dem matt schimmernden Sand und hatte Tom mit seinen verblassten Farbflecken einen Riesenschrecken eingejagt. Ein paar turtelnde Liebespärchen, ein einsamer Jogger, das war‘s. Alle anderen saßen schon beim Abendessen oder bei einem schnellen Aperitif vorneweg und hatten keine Ahnung, dass ein verzweifelter Mann nur wenige Meter von ihnen entfernt am Strand entlang stapfte und seine Frau suchte.
Die Füße sandverkrustet, die Beine bis zu den Knien mit salzkristallenen Flecken übersät, war er dann in jedes Restaurant, jede Bar, jedes Café des Hotels gestolpert, auch wenn er genau wusste, dass Nina niemals ohne ihn essen gegangen wäre. Sein T-Shirt trug er immer noch verkehrt herum, aber als ihn eine ältere Dame in einer paradiesvogelbunten Tunika freundlich mit Zeichensprache darauf aufmerksam machen wollte, war er nur weiter getrottet, die Augen starr auf die vielen Menschen rechts und links gerichtet, die zu einer grellen, konturlosen Masse verschwammen. Dann hatte er aufgegeben.
Jetzt hockte er auf dem Bett, die letzte Bierdose aus der Minibar in der Hand. In seinem Kopf herrschte Chaos. Er war in einem Albtraum gelandet. Einem Albtraum wie im Film. Eben war die Frau noch da, lachte in die Kamera, und dann war sie weg. Spurlos verschwunden. Einfach so. Da gab’s doch diesen amerikanischen Thriller, der spielte ganz in der Nähe. Brasilien oder Bolivien oder Peru. Es fiel ihm nicht mehr ein. Aber so was passierte doch nur in Hollywood, oder? Nicht ihm. Nicht Nina …
Er schaffte es mit übermenschlicher Anstrengung, die leere Dose in den Abfalleimer zu werfen, dann rollte er sich unter der Bettdecke zu einem Häufchen Elend zusammen. Dank fünf Coronas auf nüchternen Magen schlief er fast auf der Stelle ein.
Nur wenige Kilometer entfernt, in einem spartanisch eingerichteten Zimmer, das überhaupt nicht zu der opulenten Pracht der restlichen Villa passte, knurrte Nina ebenfalls der Magen. Und auch sie brachte keinen Bissen herunter. Ihr Handrücken war schon ganz nass vor lauter Tränen, die sie sich von den Wangen wischen musste.
Erst war es der Schock gewesen. Der Schock über die Brutalität, mit der sie der Chauffeur plötzlich am Arm gepackt und die Treppen hinauf in das Zimmer im oberen Stockwerk geschleift hatte, während sie auf einem todschicken, petrolfarbenen Ledersofa gesessen und auf die Rückkehr von Señor Balearte gewartet hatte, der sich gerade nebenan mit einem Experten über die Echtheit der Tonfigur beratschlagen wollte. So baff war sie über diese plötzliche Attacke gewesen, dass sie nicht mal daran gedacht hatte, zu schreien. Wahrscheinlich hätte sie eh nur ein Kieksen herausgebracht.
Es hatte Stunden gedauert, bis sie wieder klar denken konnte. Eine ganze Weile hatte sie im Stockdunklen dagesessen, ohne zu merken, dass es Abend geworden und die Sonne schon längst untergegangen war. Und dann war es noch richtig harte Arbeit gewesen, ihre zitternden Knie unter Kontrolle zu bringen und sich bis an den Lichtschalter neben der Tür voranzutasten. Gerade noch rechtzeitig, bevor eine hagere, schmalbrüstige Frau in den späten Fünfzigern die Tür aufgeschlossen und ein Tablett hereingetragen hatte, sorgfältig bewacht von dem Chauffeur, der wie der drohende Schatten eines riesigen Bären im Türrahmen stehen geblieben war. Die Frau hatte Nina nur einen schnellen, gleichgültigen Blick zugeworfen, das Tablett mit einem Teller voller Toastscheiben und einer kleinen Plastikflasche auf dem Tisch abgestellt, die Hände an der verwaschenen, blaustichigen Kittelschürze abgewischt, und schon war sie wieder verschwunden gewesen.
Nina seufzte. Was sollte das Ganze? Warum behandelten die sie wie einen Verbrecher? Sie hatte nichts getan! Dachten die etwa, sie hätte die Figur selber ausgegraben? Oder aus einem Museum gestohlen? Die konnten sie doch nicht einfach in ein Zimmer schleppen und die Tür absperren!
Und wer waren eigentlich ›die‹? Bestimmt hatte Señor Balearte keine Ahnung, dass sie hier festgehalten wurde. Wahrscheinlich dachte er, ihr wäre die Zeit zu lang geworden und sie hätte sich auf den Heimweg gemacht, ohne sich von ihm zu verabschieden.
Sie zog die Nase hoch und atmete tief durch. Einmal, zweimal, dreimal. Ganz ruhig. Lass dir was einfallen. Sie sah sich in dem Zimmerchen um, das außer einem einfachen Bett mit leinenweißer Bettwäsche, dem schmalen Kleiderschrank ohne Inhalt, einem Tisch und einem Stuhl aus billigem Holz nichts weiter beherbergte. Nicht mal Bilder hingen an den hell gestrichenen Wänden. Wenigstens führte die Tür neben dem Schrank zu einem winzigen Nebenraum mit WC und Waschbecken. Ein einsames Handtuch hing an dem Haken neben dem Waschbecken, und Nina hätte schwören können, dass es schon benutzt worden war. Trotzdem – wenigstens ein Problem weniger. Mit leerer Blase konnte sie sich besser konzentrieren.
Ihre Augen wanderten über die wenigen Möbelstücke, dann über das Tablett mit dem Teller, auf dem die drei Toastscheiben und das Stück grober Fleischwurst immer noch unangetastet dalagen, zu der Wasserflasche aus Plastik. Nichts, was man als Waffe nutzen konnte. Sie sah zu der Deckenlampe hoch. Eine einfache Scheibe, aber immerhin. Ob sie die runterreißen konnte, wenn sie auf den Stuhl stieg? Sie stemmte sich schwerfällig von der viel zu weichen Matratze hoch und humpelte zum Tisch, der neben dem Fenster stand. In ihren Beinen kribbelte es wie von tausend Ameisenbissen. Sie musste darauf achten, immer einsatzbereit zu sein. Für den Fall, dass sich doch noch die Möglichkeit zu einer schnellen Flucht bot.
Durchs Fenster würde sie nicht abhauen können, so viel stand fest. Es war verriegelt, und selbst wenn sie sich traute, die Scheibe einzuschlagen, stellte sich immer noch das Problem, wie sie an der glatten Außenwand vom zweiten Stock in den Garten hinunterkam. Fensterbänke oder Balkone: leider Fehlanzeige. Ganz abgesehen davon, dass sie sich die Kletterei eh nicht zutraute.
Gedankenverloren starrte sie hinaus. Das Zimmer lag zur Rückseite, und hinter der Villa musste sich noch ein ganzer Park erstrecken. Hier und da glommen einzelne Gartenleuchten wie kleine Leuchttürme, aber der Großteil der Umgebung lag in völliger Dunkelheit. Sie dachte an die vielen Kameras, die ihr beim ersten Besuch hier schon aufgefallen waren. Bestimmt waren das Geräte, die auch in der Nacht funktionierten. Wie lange war es jetzt her, seit sie mit Tom und Fernando am Zaun gestanden und die Villa bewundert hatte? Ihr kam es vor, als lägen Lichtjahre zwischen dem lauschigen Abend und dem Katastrophentag heute.
Tom … Bestimmt machte er sich Sorgen um sie. Wie immer hatte sie keine Uhr dabei, aber es war bestimmt schon nach acht. Ob er dachte, dass sie die Zeit vergessen hatte? Oder war er sauer, weil sie nicht zurückkam? Er fehlte ihr so sehr, dass es wehtat. Irgendwo ganz in tief der Brust. Sie spürte, dass ihr wieder Tränen in die Augen stiegen. Und die Papiertaschentücher lagen gut eingepackt in ihrer Handtasche unten auf dem Sofa. Ob sie die je wiedersah? Wenigstens war sie so schlau gewesen, nur den alten Plastikgeldbeutel mit ein paar Peso-Scheinen einzustecken. Die Kreditkarte ruhte friedlich neben dem Reisepass im Zimmersafe – direkt neben ihrem Smartphone. Verdammt. Ein Handy wäre jetzt ihre Rettung. Wenn sie hier wieder raus kam, würde sie keinen Schritt mehr ohne tun. Der Chauffeur hatte sie vorhin schon gierig mit seinen riesigen Händen am ganzen Körper abgetastet, gründlicher als notwendig, und fragte sich bestimmt immer noch, ob er nicht ein winziges Mobiltelefon übersehen hatte.
Plötzlich flammte im Erdgeschoss Licht auf. Jemand musste eine Tür geöffnet haben, denn der warme Schein einer Lampe floss in einem schrägen Dreieck über den Rasen. Nina hielt den Atem an. Es war – ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer – was für ein Glück! Es war Señor Balearte! Sie musste nicht lange überlegen. Mit beiden Fäusten trommelte sie gegen die Scheibe, winkte und schrie, auch wenn er sie auf die Entfernung bestimmt nicht hören konnte.
Ob sich Nina da nicht mal zu früh freut ...
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