Leseprobe

Ein paar Minuten später wurde das Gefühl übermächtig, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte sich nicht verlaufen, so viel war sicher. David hatte wirklich fast jeden Baumstamm akribisch neu markiert, und die weißen Kreidestriche leuchteten in dem feuchten Grün. Es war wirklich kein Problem, auf dem Pfad zu bleiben. 

  Trotzdem, irgendwas störte sie.

  Ela blieb stehen.

  Es dauerte einen Moment, bis sie es hörte. Dieses feine Rascheln von feuchtem Laub, das leise Knacken dünner Zweige …

Das Echo ihrer Schritte. Ela fuhr herum. Doch da war nichts.

  Nichts außer den Nebelschwaden, die den Berghang emporkrochen, die Felsbrocken umhüllten und aus Bäumen Monster mit knochigen Armen und scharfen Klauen machten.

  Ela stemmte sich Hände in die schmerzenden Seiten, während sie mit zusammengekniffenen Augen in das bleiche Grau starrte, durch das sie sich gerade den Hang hinaufgekämpft hatte. Wieder raschelte es. Für den Bruchteil eines Augenblicks glaubte Ela den Schatten von etwas Großem zu sehen, das über den Pfad huschte, schnell und leichtfüßig, kaum mehr als ein schmaler Schatten, der sofort mit dem eines Baumes verschmolz. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Im nächsten Moment zog ein Dunstschleier davor, und als er die Sicht wieder freigab, war da nur feuchtglänzendes, knorriges Holz.

  Sie musste sich getäuscht haben. Ihre Phantasie spielte ihr einen Streich – kein Wunder in dieser gruseligen Umgebung.

Oh, dieser verdammte Nebel!

  Ela wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, die so kalt wie ihre klammen Finger war, und dachte nach. Für ein Tier war der Schatten zu groß und zu dünn gewesen. Bei diesen miserablen Sichtverhältnissen würde sich weder ein Förster noch ein Jäger von Baum zu Baum schleichen, ganz zu schweigen von einem harmlosen Wanderer, es sei denn …

  Es sei denn, er hieß Tim und war ein blödes Arschloch.

  »Hey, Tim!«, rief sie in das wabernde Grau hinunter. Ihre Stimme zitterte, halb vor Wut, halb vor Angst. »Ich weiß, dass du’s bist. Komm raus! Das ist echt nicht witzig, okay?«

  Hoch über ihr flatterte keckernd ein unsichtbarer Vogel auf. Dann war es wieder ganz still.

  »Oh, Mann, bist du kindisch«, zischte Ela, drehte sich um und stapfte den Pfad weiter nach oben.

 

Als sich endlich das schmierige Rostrot des Sandsteinfelsens durch den Dunst bohrte, an dem sie am Tag zuvor Halt gemacht hatten, atmete Ela erleichtert auf. Gleich hatte sie es geschafft. Bis zum Gipfel war es nicht mehr weit, und dann ging es nur noch bergab – auf direktem Weg zurück in die Hütte, wo eine heiße Dusche und ein warmer Strickpulli auf sie warteten.

  Und natürlich David.

  Ela lächelte, während sie sich an eine Felssäule lehnte und die brennenden Oberschenkel rieb. Sie wusste, worauf sie sich am meisten freute.

  Wieder knackte ganz in der Nähe ein Zweig, doch inzwischen hob sie nicht mal mehr den Kopf, wenn sie etwas hörte. Tim folgte ihr immer noch. Er blieb auf Abstand, huschte von Deckung zu Deckung und fand sich offensichtlich total witzig. Dass er sich ständig durch das Rascheln und Knirschen seiner Schritte verriet, schien er nicht zu kapieren. Ein kompletter Idiot eben.

Ela holte tief Luft und stieß sich vom Felsen ab.

  Endspurt, dachte sie. Die paar Meter schaffst du doch mit links. Bald hast du’s hinter dir. Denk an David.

  Doch gleich hinter dem Felsen verengte sich der Pfad zu einer schmalen Rinne, die sich tief in den Sandstein einschnitt. Das feuchte Moos machte den Weg so rutschig wie frischgefallener Pulverschnee, und sie musste sich mit den Händen auf den Felsbrocken abstützen, um nicht den Halt zu verlieren. Jetzt kam sie nur noch quälend langsam vorwärts, die Augen starr zu Boden gerichtet.

  Trotzdem hätte sie es beinahe übersehen. Es hing tief von den Zweigen einer krummen, windzerzausten Kiefer herunter, die sich mit ihren Wurzeln an dem Felsen direkt neben dem Pfad festklammerte. Zerknittert und feucht, aber da war es.

  Maries Tuch.

  Sie würde sich wahnsinnig freuen, es wiederzuhaben, und ausgerechnet sie, die lahme Ente Ela, hatte es entdeckt. Lächelnd beugte sie sich vor und zupfte das Baumwolltuch aus den Zweigen.

  Sie lächelte immer noch, als ihr ein stechender Geruch in die Nase stieg. Im nächsten Augenblick presste ihr eine behandschuhte Hand etwas Feuchtes auf den Mund, und Elas Welt versank in eisiger Dunkelheit.

 

Wer hat Ela aufgelauert? Was passiert mit ihr? Und wird sie es schaffen, sich aus dem Düsterwald zu befreien - und all den Lügen ihrer Familie?

 

Bist Du wirklich bereit für die ganze Wahrheit, auch wenn sie noch so sehr wehtut?

 

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